Interview von Étienne Schneider im Luxemburger Wort

"Die bessere Tripartite"

Interview: Luxemburger Wort (Laurent Schmit Und Pol Schock)

Luxemburger Wort:
Herr Schneider, die Rifkin-Debatte bestimmt gerade die Aktualität. Wir haben allerdings den Eindruck, Sie haben sich des Namens Jeremy Rifkin bedient, um die bestehenden Projekte der Regierung hübsch zu verpacken. 

Étienne Schneider: Sie täuschen sich. Es ist genau anders herum. Jedes Ministerium hat in den vergangenen Jahren irgendwie seine nachhaltigen Initiativen ergriffen, aber es gab kein klares Ziel - kein zukunftsweisendes Gesamtkonzept. Das hat mich stets gestört. Und als ich dann vor zwei Jahren Jeremy Rifkins Buch „Die dritte industrielle Revolution" gelesen habe, dachte ich mir: Das ist es.

Luxemburger Wort:  Und dann haben Sie den Mann einfach kontaktiert?

Étienne Schneider: Ja. Und ganz ehrlich: Rifkin war am Anfang alles andere als interessiert - er wusste nicht einmal, was Luxemburg ist. Das machte sich auch an seinem ersten Angebot deutlich, das ein vielfaches des Preises war, den wir nachher zahlten. Doch ich habe nachgehakt, ihm Luxemburg näher gebracht, und Rifkin änderte seine Auffassung. Er begann Luxemburg als einmalige Chance zu begreifen, um seine Vision umzusetzen: Denn mit flächendeckenden elektrischen Anschlüssen und intelligenten Stromzählern waren bereits einige wichtige Voraussetzungen gegeben. Und er fand noch etwas anderes: das Engagement einer ganzen Regierung.

Luxemburger Wort: Haben Sie von Rifkin denn die Strategie erhalten, die Sie sich erwartet haben?

Étienne Schneider: Auch hier ist es anders als Sie denken: Rifkin hat uns keine fertige Strategie geliefert, sondern lediglich Denkanstöße. Letztlich war Rifkin nur der Moderator der Debatte - die rund 350 Akteure aus Luxemburg haben die Strategie gemeinsam erarbeitet. 

Luxemburger Wort: Also diente der Name Rifkin eher als Projektionsfläche für zukünftige Ideen. Haben Sie denn nicht das Gefühl, dass sich die Debatte verselbstständigt hat und mittlerweile auf jede Idee das Etikett Rifkin geklebt wird? 

Étienne Schneider: Das stört mich überhaupt nicht. Denn bei Rifkin geht es ja um Nachhaltigkeit und Digitalisierung, und das betrifft nun einmal fast alle Lebensbereiche. Außerdem war diese breite Gesellschaftsdebatte ja von Anfang an das Ziel. Und es ist in der Tat ein Selbstläufer geworden. Ich sehe das aber eher als Erfolg.

Luxemburger Wort:  Wurmt es Sie denn nicht, dass die Grünen oder auch andere Akteure der Zivilgesellschaft sich die Debatte zu-eigen machen und Sie als Initiator etwas schlecht wegkommen?

Étienne Schneider: Ein Bekannter hat einmal zu mir gesagt: Eigentlich müsste die Debatte deinen Namen tragen. 

Luxemburger Wort:  Der Schneider-Prozess?

Étienne Schneider: Das wäre wohl etwas vermessen gewesen. Wir haben in Luxemburg nicht die Gepflogenheit wie etwa in Deutschland oder in Frankreich, dass Gesetze oder Initiativen den Namen des zuständigen Ministers erhalten. Doch ob es nun Rifkin oder Schneider heißt, ist mir auch egal -Hauptsache wir führen die Debatte. 

Luxemburger Wort:  Damit ist es Ihnen jedenfalls gelungen, nahezu sämtliche gesellschaftlichen Akteure - von Verbänden über Parteien bis hin zu Gewerkschaften -an einen Tisch zu setzen, um über die Herausforderungen der Zukunft zu reden. Ist der Rifkin-Prozess die neue Tripartite?

Étienne Schneider: Ja, das kann man so sagen. Und es ist sogar eine bessere Tripartite, da wir die Debatte viel breiter führen - jenseits der starren Form bestehend aus Gewerkschaften, Patronat, Regierung.

Luxemburger Wort:  Die Projekte klingen jedoch nicht so neu. Der Supercomputer HPC war in Planung und das Wohnprojekt in Wiltz umfasste bereits vor Rifkin Elemente der Kreislaufwirtschaft. Was ist der Mehrwert des Rifkin-Prozesses bisher? 

Étienne Schneider: Was ist daran problematisch? Natürlich gab es bereits Initiativen dieser und der vorigen Regierungen, doch jedes Ministerium hat auf seiner Seite seine Themen lanciert. Der Rifkin-Bericht fügt diese Bausteine zu einem Ganzen zusammen. Neu ist nicht jede Idee. Neu ist, dass sich die ganze Regierung diesem Gesamtkonzept verpflichtet fühlt.

Luxemburger Wort:  Wie geht es jetzt weiter?

Étienne Schneider: Die Ideen der Arbeitsgruppen müssen jetzt umgesetzt werden. Nehmen wir das Beispiel Energieinternet. Ziel ist es, Energie dezentral und grün zu produzieren. Wir haben deshalb bereits das Gesetz für Fotovoltaikanalgen verändert und genehmigen nur noch Passivhäuser. Nun wollen wir die Häuser so miteinander vernetzen, dass ein autarker Kreislauf entsteht, in dem Haushalte sowohl Energie verbrauchen als auch produzieren. 

Luxemburger Wort:  Dieser Prozess geht weit über die nächsten Wahlen hinaus. Was machen Sie, wenn die nächste Regierung eine andere Zukunftsvision hat und alles kippt?

Étienne Schneider: Ich sehe diese Gefahr nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die CSV, die sich ja bereits in der nächsten Regierung sieht, unsere Ideen ablehnen sollte.

Luxemburger Wort:  Der Rifkin-Prozess ist also so brillant, dass er als unumstößlich gilt?

Étienne Schneider: Das würde ich nicht sagen, aber ich sehe wirklich keine Alternative zu Rifkin.

Luxemburger Wort:  Allerdings scheiden sich an der Wachstumsfrage die Geister. Sie behaupten, wir brauchten drei bis vier Prozent Wachstum - Minister Francois Bausch und viele andere Abgeordnete hingegen wollen sich vom Wachstumsdogma lösen. 

Étienne Schneider: Das ist Quatsch!

Luxemburger Wort:  Wachstumskritik ist Quatsch?

Étienne Schneider: Gegenfrage: Kennen Sie ein einziges Land auf dieser Erde, in dem eine Regierung dafür plädiert, das Wachstum zu verringern?

Luxemburger Wort:  In Deutschland gab es Debatten dazu.

Étienne Schneider: Debatten und Spinner gibt es überall. Die Antwort ist: Es gibt kein einziges Land. Und deshalb ist die Art der Wachstumskritik in diesem Land auch Häresie. Fakt ist: Wir brauchen drei bis vier Prozent Wachstum. Und mit der Digitalisierung und dem Rifkin-Prozess werden wir nachhaltiges Wachstum schaffen - also ohne die negativen Konsequenzen für Umwelt und Wohnungspolitik.

Luxemburger Wort:  Aber das Problem ist doch, dass Luxemburg bereits jetzt mit der Infrastruktur hinterherhinkt. Und bei diesen hohen Wachstumszahlen wird die Infrastruktur irgendwann nicht mehr finanzierbar sein?

Étienne Schneider: Das stimmt. Aber nur, wenn man die Zahlen von heute naiv in die Zukunft extrapoliert. 

Luxemburger Wort: Sie stellen Zukunftsberechnungen generell in Frage?

Étienne Schneider: Aber natürlich. Sie erinnern sich vielleicht an den Bericht des Club of Rome aus den 1970ern oder die Prognos-Studie der 1980er-Jahre -diese Horrorszenarien haben sich sämtlich als falsch herausgestellt.
Sie unterliegen nämlich alle einem Denkfehler: Sie wollen auf der Grundlage der Zahlen der Gegenwart, die Zukunft berechnen. So funktioniert das aber nicht. Durch neue Technik, sogenannte disruptive Technologie, die wir noch nicht einmal kennen, werden wir noch enorme Produktivitätszuwächse erleben. Ich kann niemanden ernst nehmen, der voraussagt, was im Jahr 2060 passiert.

Luxemburger Wort:  Mit Verlaub: Genau das macht doch Jeremy Rifkin.

Étienne Schneider: Nein. Rifkin zeigt uns lediglich Zukunftsmöglichkeiten und gibt Anleitungen, wie die Technik von heute sinnvoller eingesetzt werden kann. Und ich muss gestehen, dass ich meine Position selbst innerhalb kurzer Zeit revidiert habe. Als ich 2012 Wirtschaftsminister wurde, war ich eher skeptisch gegenüber der erneuerbaren Energien. Schlichtweg aus ökonomischen Gründen, weil vor allem die Fotovoltaikanlagen zu teuer waren.

Luxemburger Wort:  Nach dem Motto: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern."

Étienne Schneider: Als Politiker kann man doch nicht glauben, 40 Jahre die gleiche Meinung zu vertreten. Die Welt verändert sich. Und deshalb sind Prognosen auch Quatsch. Wo ist denn die Rentenmauer von Jean-Claude Juncker? Wir sind einfach ohne Anstrengung darüber gestiegen - und genau so nichtig sind auch die Statec-Prognosen für 2060 oder die der CSV.

Luxemburger Wort:  Sie gehen grundoptimistisch und fortschrittsgläubig durch die Welt?

Étienne Schneider: Absolut. Wir Politiker dürfen den Menschen nicht Angst vor der Zukunft machen - vor allem nicht aus wahltaktischen Gründen. Es gibt Entwicklungen, die können wir nicht aufhalten. Die Welt von gestern wird auch nicht mehr zurückkehren. Aber wir können einen positiven Diskurs gestalten. Die Digitalisierung birgt Chancen. Und gleichzeitig hat die Politik dafür Sorge zu tragen, dass der gesellschaftliche Fortschritt mit dem technologischen einhergeht. 

Luxemburger Wort:  Aber das Ziel bis 2050 bei 100 Prozent erneuerbaren Energien zu sein, ist dennoch ambitioniert. 2020 sollen es erst elf Prozent sein.

Étienne Schneider: Das stimmt. Aber ich gebe Ihnen ein Beispiel, wie schnell es gehen kann. 2012 habe ich noch viele Fördermittel für Gasleitungen in Wohnbezirke ausgegeben. Das ist heute anders, denn mit dem neuen Passivhausstandard sind Gasheizungen in neuen Häusern überflüssig geworden. Der Energieverbrauch von neuen Häusern ist innerhalb von zehn Jahren um den Faktor 10 gefallen. Das ist technischer Fortschritt, den aber auch die Politik ermöglichen musste.

Luxemburger Wort:  Sie sehen keinen Widerspruch zwischen Wachstumspolitik und dem Nachhaltigkeitsversprechen des Rifkin-Prozesses. Kritiker werfen Ihnen jedoch auch vor, dass das „Space Mining" nicht zu dieser Strategie passt? 

Étienne Schneider: Auch hier sehe ich keinen Widerspruch. Und ich erkläre Ihnen auch warum. Heute haben eine Milliarde Menschen Zugang zu moderner Technologie wie Smartphones. In zehn Jahren sollen es drei Milliarden sein. Das Problem: Diese Technologie beruht auf sogenannten „seltenen Erden", deren Vorkommen zu 90 Prozent in China liegen. Der universelle Zugang zu Wohlstand und Fortschritt ist also durch irdische Begebenheiten begrenzt. Doch diese „seltenen Erden" lassen sich im Weltraum in unbegrenzter Form finden. Es wäre demnach geradezu unverantwortlich, dieses Potenzial nicht zu nutzen und der Menschheit zur Verfügung zu stellen.

Luxemburger Wort: Im Weltraum gibt es also endlich unbegrenztes Wachstum?

Étienne Schneider: Eigentlich schon. Es ist nur die Technik, die uns begrenzt - und die Moral.

Luxemburger Wort:  Die Moral?

Étienne Schneider: Ja. Moralische und religiöse Überlegungen haben den Menschen jahrhundertelang an Ketten gelegt. Der Himmel durfte nicht erobert werden, er gehörte den Heiligen. Ohne Moral wären wir wohl längst schon viel weiter. 

 

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