Interview von Étienne Schneider im Forum

"Es ist alles nicht so einfach."

Interview : Forum

Forum: Welche Auswirkungen haben 4 % Wachstum auf die Bürger im Land? 

Étienne Schneider: Das ist eine komplizierte Frage, die nichts mit dem Thema „Space mining" an sich zu tun hat. Sie hat mit der wirtschaftlichen Entwicklung generell zu tun. Nach allen Studien, die wir gemacht haben, wissen wir, dass wir — um unseren Lebensstandard auf dem Niveau zu halten, den wir schon eine Zeitlang gewohnt sind — ein Wirtschaftswachstum von 3,5 bis 4 % pro Jahr brauchen. Dort befinden wir uns derzeit auch. Wir wissen aber auch, dass wir dieses Wachstum mit einer Reihe negativer Nebeneffekte generieren in den Bereichen Verkehr, Wohnungskosten, Umwelt usw. Vor diesem Hintergrund haben wir vor zwei Jahren mit der Rifkin-Strategie begonnen, um herauszufinden, wie wir weiterhin Wachstum gewährleisten können, allerdings ohne die negativen Effekte. „Shared economy" und „Circular economy" sind in dieser Strategie wichtige Punkte. 

Auch die Mobilitätsstrategie, die wir entwickeln, um komplett auf Elektromobilität und auf fahrerlose Autos kombiniert mit „carsharing" umzusteigen, gehört dazu — mit dem Ziel, dass morgen nicht mehr jeder Besitzer eines Autos ist, sondern nur noch Mobilität als Dienstleistung „as a service" kauft. 

Forum: Außerhalb der Stadt Luxemburg dürfte es schwierig werden, ohne eigenes Auto zu überleben. 

Étienne Schneider: Ja, es ist richtig, dass dieses System landesweit funktionieren muss und nicht nur landesweit, auch europaweit. Deshalb hat Luxemburg vor drei Wochen auf der Internationalen Automobilmesse in Frankfurt ein Abkommen mit Deutschland und Frankreich unterschrieben, um die grenzüberschreitenden Fragen zu regeln. Technisch sind die selbstfahrenden Autos schon sehr weit, aber die Gesetzgebung hinkt noch hinterher.
Das Wohnungswesen ist unser größtes Problem, , denn je attraktiver das Land ist — und Luxemburg hat jedes Jahr ein Bevölkerungswachstum von 10 000 bis 12 000 Menschen, wir bauen aber nur Wohnungen für 3 000 bis 4 000 Menschen — desto schwieriger wird es, diese Lücke aufzuholen. Es gibt keine 100 Lösungen. 

Forum: Das Land wird nichtgrößer. 

Étienne Schneider: Nein, das Land wird nicht größer, wir können aber zunehmend in die Höhe bauen. Wieso sollten auf dem Kirchberg nicht mehrere dieser Wohntürme errichtet werden, von denen jetzt einer in Planung ist? Oder wir können verdichten. In Wien wurden in der ganzen Altstadt auf die alten Gebäude jeweils zwei Stockwerke aufgesetzt, das sieht super aus und bringt wieder Leben in die Stadt. Auch für die Grand Rue gab es durchaus Überlegungen, um die Häuser oben aufzustocken, neue Zugänge zu schaffen, meinetwegen auch von hinten. Dann kommt aber noch folgendes hinzu: Vom Flugzeug aus sehe ich — bei allem Respekt — dass dieses Land durch und durch grün ist. Wenn ich mir die ganzen Grünflächen und Felder anschaue, sehe ich enorme Möglichkeiten, um zu bauen und zu entwickeln ohne größere Probleme. Das muss man aber auch wollen. Und dort liegt ein wenig das Problem, denn wenn wir die Preise drücken wollen, dann muss das Angebot steigen. 

Wir können aber nicht hingehen und das Wohnproblem damit lösen, dass wir kein Wachstum mehr zulassen: Dann hätten wir nämlich hundert andere Probleme, die wir nie wieder in den Griff bekämen. Die Krisenzeit von 2008 bis 2013 war das beste Beispiel, wie es dem Land ergehen kann, wenn es über ein paar Jahre kein Wachstum erlebt — übrigens hatten wir damals immerhin ein Wachstum von 1,5 bis 2 % — und was war die Folge? Wir haben die Staatsschulden in fünf Jahren verdreifacht, um den Lebensstandard aufrecht zu erhalten und den Menschen nicht wehtun zu müssen. Stellen Sie sich nun vor, wir würden hingehen und sagen: „Wir wollen nur noch 2% Wachstum." Dann sage ich Ihnen voraus, wird hier alles zurückgeschraubt. Gehen Sie einmal ins Krankenhaus nach Mont-Saint-Martin, dann sehen Sie, wie eine Region ohne Wachstum aussieht, und dann vergleichen Sie das mit den Dienstleistungen, die Sie hier genießen. Die Situation dort ist eine einzige Katastrophe, das ist Dritte Welt. 

Diese ganze Region verarmt und das obwohl sie noch von dem Geld der Menschen lebt, die in Luxemburg arbeiten, und die Region durch diesen Umstand ihre Wirtschaft einigermaßen aufrecht erhalten kann. Kein Wachstum ist definitiv keine Option. Wir brauchen aber ein intelligentes Wachstum, das auf Modellen beruht, die die Negativeffekte auf unsere Lebensqualität ausschließen. Das ist das Ziel der Rifkin-Strategie. 

Ich habe mir heute noch den Bericht des Nachhaltigkeitsrats angeschaut, der zum Schluss kommt, dass in unserer Rifkin-Strategie noch wichtige Aspekte fehlen. Ja, das ist richtig. Es fehlen noch hunderte Aspekte, aber irgendwo müssen wir anfangen. Neun große Themen haben wir seit zwei Jahren behandelt, und die wollen wir nun zu einem Abschluss führen. Das bedeutet aber nicht, dass wir dann fertig sind und die andern Themen nicht behandeln: die Digitalisierung unserer Wirtschaft, die Robotisierung, die künstliche Intelligenz, die Folgen für unsere Arbeitsplätze? Ich bin überzeugt davon, dass wir morgen andere Arbeitszeitmodelle brauchen. Und zwar Arbeitszeitmodelle für jeden Sektor. Nicht mehr die „one size fits all" 40-Stunden-Woche für alle. Das funktioniert nicht mehr. 

Wir müssen den Menschen mehr Flexibilität bieten, wir müssen aber auch den Produktivitätsgewinn, der durch Robotisierung, künstliche Intelligenz und Digitalisierung entsteht, irgendwie aufteilen zwischen dem Kapital und den Arbeitnehmern. Das kann darin bestehen, dass der Arbeitnehmer nicht mehr 40 Stunden für seinen Lohn arbeiten muss. Wir kommen an einen Punkt, wo es durch Produktivitätsgewinne und Technologie durchaus Sinn macht, weniger arbeiten zu müssen. So können wir Lebensqualität an die Menschen zurückgeben. Oder wir können sicherstellen, dass auch andere Menschen morgen noch Arbeit finden. Und schließlich kann man es natürlich auch ganz anders machen und sagen: „Die, die eine Arbeit haben, müssen mehr verdienen." Was ein bisschen weniger solidarisch wäre... 

Aber über all diese Punkte müssen wir reden und mittlerweile sind die Gewerkschaften ja auch mit im Prozess eingebunden — in einer separaten Arbeitsgruppe mit Nicolas Schmit. Das 40-Stunden-Modell ist überholt, das gibt es morgen nicht mehr. Ich kenne viele Betriebe, in denen es keine 40-Stunden-Woche mehr gibt, wo man ein Ziel, einen Arbeitsauftrag erhält, ob man den nun zuhause, bei seiner Mutter, im Büro oder sonst wo ausführt, ist ganz egal. Solange das Resultat stimmt, ist es gut. Warum sollten wir auch jemandem auferlegen, er müsse unbedingt fünf mal acht Stunden arbeiten und nicht drei mal eine andere Zeitspanne. Doch die Gewerkschaften sind immer noch im Modus „Wir müssen die Menschen alle beschützen". Mir ist klar, dass es auch Missbrauch oder das Risiko von Missbrauch gibt und mir ist auch klar, dass man das ernst nehmen und angehen muss, aber es kann doch nicht sein, dass nur weil ein eventuelles Risiko besteht, bestimmte Menschen gegen ihren Willen etwas auferlegt bekommen und nirgends andere Modelle umgesetzt werden können. 

So ähnlich ist es auch mit dem Wohnungsmarkt. Nur weil durch Wachstum das Wohnen teurer wird, können wir nicht einfach auf Wachstum verzichten. Sonst ist das Wohnen morgen schlagartig billig. Bei null Prozent Wachstum würden die Preise hier in Luxemburg Stadt von sieben-, acht-, neun-, zehntausend Euro pro Quadratmeter auf tausend Euro pro Quadratmeter fallen, dann sind die Wohnungen etwa soviel wert wie in Nordportugal. Und wir müssen auch vergleichen, was vergleichbar ist: Lasst uns Luxemburg mit Hamburg, mit München, mit London vergleichen — dann liegen wir mit unseren Preisen immer noch im korrekten Rahmen. Das hilft natürlich niemandem, der eine Wohnung sucht und kein Geld hat, da bin ich ganz einverstanden, aber wir brauchen neue Baumodelle. Alex Bodry hat ja von „Enteignung" geredet. Das ist ein Begriff, der ganz krass ist. Ich glaube nicht, dass man so weit gehen muss. Man sollte stattdessen Bauland ausweisen und verdichten. 

Forum: Von Außen gesehen, ist es vollkommen unverständlich, dass wir hier ... 

Étienne Schneider:  Ich kriege Tränen in die Augen, wenn ich über dieses Land fliege und die ganzen Felder sehe. 

Forum: Wem gehören diese Felder? 

Étienne Schneider:  Das ist eben die Frage. 

Forum: Solange die Eigentümer ihre Grundstücke nicht hergeben, kann der Staat kaum etwas ausrichten. 

Étienne Schneider: Richtig und vor diesem Hintergrund hat Alex Bodry gesagt, dass wir enteignen müssen. 

Forum: Die Erklärung sieht man möglicherweise dort am Horizont, wo die Kräne stehen. Wenn im Ban de Gasperich und an anderen Orten in Luxemburg die Grundstücke und Gebäude nicht zu den heutigen Preisen verkauft werden, ist nicht nur Luxemburgs größter Immobilienentwickler Flavio Becca pleite, sondern auch die Caisse d'Epargne. Die Banken sind mit den Promotoren so verschwistert, dass diese unbedingt auf dem Rücken ihrer Kunden Gewinn machen müssen. Ist diese Analyse richtig? 

Étienne Schneider: Absolut. Wenn man das wirtschaftlich betrachtet, ist genau das das Problem. Wenn wir von heute auf morgen massiv Bauland mobilisieren — durch Enteignung oder was auch immer — dann stünden wir genau vor diesem Problem. Dann würden die Immobilienentwickler Pleite gehen und wir alle, die schon etwas gekauft haben, mit ihnen, weil wir Darlehen auf dem Rücken hätten, die nicht mehr dem Marktwert der Häuser entsprechen. Dann hätten wir eine Situation wie in den USA, wo zehntausende Menschen auf der Straße gelandet sind. Ob wir es wollen oder nicht, wir können den Übergang zu niedrigeren Preisen nur langsam vollziehen, sonst haben wir mehr Elend geschaffen als wir gutgemacht hätten. 

Forum:  So gesehen macht die Situation plötzlich Sinn... 

Étienne Schneider: Es ist alles nicht so einfach. Das Gute ist aber, dass wir uns wirklich Gedanken machen und mit Rifkin ein zukunftsfähiges Modell haben. Das bezieht sich auch auf die Energieversorgung und darauf, wie wir unsere Häuser untereinander vernetzen. Jeder wird eine Batterie wie einen Koffer im Keller haben, durch intelligente Zähler mit anderen Energie austauschen, und vom „consumer" zum „prosumer" werden. Am Ende des Monats erhält man eine Rechnung oder eine Gutschrift, weil man seinen eigenen Strom nicht gebraucht hat. Alle Modelle, unsere ganzen Lebensformen- und Lebensmodelle befinden sich im Umbruch. 

Was mir dabei aber Sorgen bereitet, ist der Umstand, dass die Menschen nicht mehr nachkommen. Die Menschen fühlen sich durch all diese Veränderungen überfahren. Und in dieser Situation wählen sie überall konservativ, nach dem Motto: „Lasst uns in Ruhe, lasst uns drei Gänge zurückschalten." Das Unglück besteht leider darin, dass sie nicht begreifen, dass der Wandel unaufhaltsam ist, egal wie sie wählen. Die Technik und der Fortschritt lassen sich nicht aufhalten. 

Wenn dann die CSV populistisch erklärt: „Wir wollen keinen Ein-Millionen-Einwohnerstaat und wir wollen das Wachstum nicht, das nur Negatives mit sich bringt" — obwohl sie genau wissen, wozu wir dieses Wachstum benötigen — sagen sich die Menschen: „Ah, jetzt wird's wieder ein wenig ruhiger, ich habe mich schon gar nicht mehr zuhause gefühlt." Spätestens wenn das Gleichgewicht zwischen der ausländischen und der luxemburgischer Population kippt, wenn wir von 47 Prozent auf 50 Prozent Ausländer kommen, wird noch eine ganz andere Debatte hinzu kommen: „Fremd im eigenen Land"! Und das wird eine reaktionäre Entwicklung bei den Wahlen auslösen, wie sie Marine LePen unter dem Motto „Früher war alles besser" mit viel Erfolg in Frankreich vorgeführt hat. Das Elend ist leider, dass viele Menschen auf die Illusion, dass früher alles besser war, reinfallen. Das ist so und da haben wir quasi keine Chance. 

Forum: Vielen Dank für die klaren Worte!

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